LEAN-Unternehmen lernen sogar bei Medizinern…

Beim Versuch in die Tiefe der Prozesslandschaft eines Krankenhauses einzutauchen wird jeder mit einem Standardsatz konfrontiert: „wir bauen doch keine Autos“.

Damit ist gemeint, dass die Abläufe in der Gesundheitsbranche:

  • nicht modellierbar
  • nicht standardisierbar
  • zu komplex
  • und absolut individuell sind

…weil jeder Patient wegen seiner Persönlichkeit, Vorgeschichte, Krankheitsbildes usw. ein Unikat sei.

Dementsprechend ist jeder Arzt ein Künstler, der durch seine Veranlagung und Ausbildung in die Lage versetzt wurde sich in so einer komplexen Landschaft zu bewegen. Er kann dank seiner intuitiven Fähigkeiten richtige Zusammenhänge erfassen und zielgenau sein Wissen einsetzen um dem Patienten zu helfen.

Autoindustrie ist hier nicht so eitel

Vor Kurzem bin ich auf der WEB-Seite von VW auf den folgenden Artikel  gestoßen:

Obwohl die Autobauer keine Menschen behandeln, wollen sie auch von den anderen Branchen etwas lernen. Uns zwar von den Krankenhäusern. Und diese Lehre heißt Chirurg-Krankenschwester-Prinzip!

Bevor wir mit dem Thema weiterfahren, ein passender Witz

Ein Forschungsinstitut hat die Aufgabe bekommen ein Vorhersage-Tool für Pferderennen zu entwickeln. Nach einem halben Jahr harter Arbeit haben die Projektleiter stolz ein Programm präsentiert, das in der Lage war mit 70% Wahrscheinlichkeit den Gewinner unter den Pferden zu ermitteln.

Und das nur mit 2 Einschränkungen: das Modell funktionierte nur für runde Pferde im Vakuum…

Modelle schränken grundsätzlich die Realität ein. Nichtsdestotrotz liefern sie beim richtigen Einsatz reale Erkenntnisse .

Zwei runde Pferde im OP

Das Chirurg-Krankenschwester-Prinzip ist ein fester Teil der LEAN-Denkweise. Um es zu verstehen, müssen wir uns jedoch in die Haut einen nicht medizinischen Betrachters im OP versetzen.

Idealerweise funktioniert eine Operation so:

  • nach einer Vorbereitung, Lagerung usw. führt Chirurg die geplante Operation durch
  • die OP-Krankenschwester reicht ihm dabei die erforderlichen Instrumente und Materialien ein
  • somit kann der Chirurg sich auf die reine Wertschöpfung konzentrieren (Kernprozess)
  • die OP-Schwester spielt hier die Rolle eines Zulieferers im Just-In-Time Modus(Unterstützender Prozess)

Dieses Prinzip klingt wie aus der täglichen Routine eines Krankenhauses herausgegriffen. Bei der näheren Betrachtung stellt es nur eine sehr vereinfachte Beschreibung einer Rollenverteilung dar. Obwohl diese Sichtweise die Assistenten, Freestyle-Aktionen  und sonstige Reibungen im echten OP-Prozess ausblendet, versetzt sie uns in die Lage auf das Geschehen im Krankenhaus prozessorientiert zu schauen.

Und das auf der Ebene der echten Patientenbehandlung. Nicht bei Logistik, nicht bei der Aufnahme, sondern mitten drin.

Man kann drei wichtige Aspekte aus diesem Prinzips ableiten:

1. Transparente und ausgetaktete Logistik für die Kernprozesse

Im Grunde genommen, handelt es sich um das Kunden-Lieferanten-Verhältnis. Und das mit perfekter Just-In-Time-Lieferung notwendiger Instrumenten, Materialien sowie Service-Leistungen wie z.B. kurz Kamera halten.

In der ersten Linie handelt es um ein logistisches Prinzip. Es geht um die folgenden Veränderungen:

  • Eine klare Trennung zwischen Leistungserbringung und logistischen Aufgaben
  • Scharfe Aufgabendefinition und Tätigkeitsbeschreibung für die einzelnen Prozessteilnehmer
  • Klare Zuweisung von Verantwortungsbereichen
  • Standardisierte Vorgehensweise

Obwohl diese Anforderungen als selbstverständlich klingen, zeigt die Krankenhausroutine deutliche Abweichungen von diesen „Idealvorstellungen“. Wie oft wird das OP-Pflegepersonal als Assistenz eingesetzt und kann sich deswegen nicht ihrer Hauptaufgabe (Logistik) voll widmen? Wie wird die Vollständigkeit von Leihstellungen gewährleistet? Ist es überhaupt möglich bei der riesigen Anzahl unterschiedlicher Eingriffe jede Pflegekraft in jedem Saal einzusetzen? Wie oft werden noch kurz vor dem OP spezielle Instrumente bzw. Implantate zusammengesucht?

Das sind nur einzelnen Bespiele aus der klinischen Routine, die durch die Umsetzung des Chirurgen-Krankenschwester-Prinzip besser geregelt werden können.

2. Ergonomie als Maßnahme zu Reduzierung von Verschwendung

In der zweiten Linie geht es um die Ergonomie am Arbeitsplatz.

Ergonomie spielt in der Produktion eine große Rolle. Spezielle Sitze, in einer bestimmten Reihenfolge in Griffweite ausgelegte Instrumente verkürzen Laufwege und körperliche Belastung erheblich. Durch die Reduzierung unnötiger Handgriffe und Laufwege lassen sich viele Arbeitsschritte einsparen.

Im Krankenhaus spielt ergonomische Gestaltung ebenfalls eine wichtige Rolle. Man kann alle ergonomischen Maßnahmen in drei Gruppen unterteilen:

  • technische und bauliche
  • planerische und organisatorische
  • personenbezogene

Zu der ersten Gruppe gehören z.B. Gestaltung ausreichend großer Verkehrswege, Planung Abstellräume für Wäschewägen, OP-Tische, automatische Türöffner usw.

Zu der zweiten Gruppe kann man ergonomische Lagerräume auf Stationen und OP sowie Lagerungshilfen zählen

Zu personenbezogenen Maßnahmen gehören Schulungen, Anschaffung spezieller Tische und Stuhle sowie aktive Arbeitsplatzgestaltung durch die Mitarbeiter.

3. Integration des Inputs und des Outputs in die Prozessbetrachtung

Die dritte Facette der Chirurg-Krankenschwester-Prinzips ist eine standardisierte Verbindung zwischen den Prozessen in eine Wertschöpfungskette.

Wenn sich ein „Chirurg“ auf die reine Wertschöpfung konzentrieren muss, dann müssen alle seine Nebentätigkeiten wie z.B. Einbestellen von Patienten, Einschleusen und Lagern reduziert werden. Das Gleiche gilt auch für die Entlagerung und Ausschleusen.

Im Grunde genommen muss der „Chirurg“ im Prozess bleiben ohne sich um Input und Output kümmern zu müssen. Das erweitert die Funktion der „Schwester“  bzw. setzt eine funktionelle Teilung innerhalb dieser Gruppe voraus: Schleusepersonal, Lagerungspflege usw.

Und das alles ist mit einer sorgfältigen Planung und Standardisierung verbunden. Solange es nicht der Fall ist, müssen Verschwendungen im Wertschöpfungsprozess in Kauf genommen werden.

Grenzen des Chirurg-Krankenschwester-Prinzips

Wie oben bereits erwähnt, bewegen sich in den Krankenhäusern keine runden Pferde. Die echten Prozesse sind ebenfalls sehr weit von den idealen Vakuum-Bedingungen entfernt. Daher hat auch das Chirurg-Krankenschwester-Prinzip  gewisse Einschränkungen:

  • Bei einer breiten Palette Behandlungsmethoden wächst der Bedarf nach spezialisiertem und eingespielten Personal
  • Koordinationsaufwand steigt: unterstützende Prozesse sind auch örtlich verteilt (Station-OP-Schleuse-Vorraum-OP-Saal)
  • Sind Prozesse nicht standardisiert (bzw. standardisierbar), wird eine koordinierte Zusammenarbeit kaum möglich sein
  • Verteilung von operativer Verantwortung für das Ergebnis auf mehrere Schulter kann unter Umständen mit juristischem  Regelwerk kollidieren
  • Es werden versteckte Kompensationsmechanismen ausgeschaltet, die zwar risikobehaftet sind, machen aber eine    Versorgung in vielen Situationen erst möglich

Zum Schluss ein paar Anmerkungen zur Kompensation

Die aktuelle Entwicklungen im Krankenhaus sind durch Arbeitsverdichtung bei gleichzeitig immer dünner werdender Personaldecke gekennzeichnet. Es werden Begriffe wie „Delegation“ und „Substitution“ ärztlicher Leistungen diskutiert.

Steigende Aktivität im OP, Personalmangel, Entstehung zahlreicher Spezialgebiete führen dazu, dass die Pflegemitarbeiter sich zunehmend weigern zusätzliche Aufgaben zu übernehmen.

Eines der Hauptgründe dafür ist eine falsche Umsetzung des Chirurg-Krankenschwester-Prinzips:

Wird Mitarbeiter in der wertschöpfenden Tätigkeit eingesetzt, kann er sich an keinen unterstützenden Prozessen wie Instrumentierung beteiligen. Das führt tatsächlich dazu, dass die OP-Schwester z.B. die Kameraführung übernimmt und der Chirurg fängt an sich selbst vom OP-Tisch zu bedienen.

Die richtige Umsetzung des Chirurg-Krankenschwester-Prinzips kann in diesem Fall so aussehen:

  • Aufstockung oder Umverteilung des Pflegepersonals
  • Alternativ Einstellung von CTA`s
  • Erstellung einer klaren Tätigkeitsbeschreibung für die Pflege als OP-Assistenz
  • Einarbeitung und Etablierung von Befähigungsnachweisen „OP-Assistenz“
  • eine klare und transparente OP-Planung
  • eine Dienstanweisung mit der Klausel, dass Instrumentieren und Assistieren durch eine Person untersagt wird

Somit wären das wertschöpfende Kernprozess „Operieren“ vom unterstützenden Prozess „Instrumentieren“ klar getrennt.