Wird in einem Krankenhaus ein LEAN-Projekt begonnen, werden die, bis dahin in den grauen Zonen versteckten Probleme, sichtbar. Man hört dabei oft Sätze wie „nicht die schlafenden Hunde wecken“ oder „ins Wespennest stechen“…
Woran liegt das?
Dafür gibt es 3 Hauptursachen, die in einem LEAN-Dreieck zusammengefasst sind:
- Prozesse
- Führung
- Kultur
Prozesse
Man muss es klar sehen: jede wirksame Veränderung in einer Organisation verändert in der ersten Linie die etablierten Abläufe.
Und Menschen sind bekanntlich Gewohnheitstiere.
Alleine die Eliminierung offensichtlicher Verschwendungen setzt eine lange Überzeugungsarbeit voraus.
- lange Laufwege (Station-Notafnahme-OP und zurück)
- Warten (auf Labor, Patiententransport, Kollegen, Konsile, Röntgenbefunde)
- Nacharbeit (Korrektur und Nachschreiben von Arztbriefen, Nachmelden von Laborwerten, vergessene Codierungen)
Mediziner, die über Jahrzehnte gelernt haben im Dienst ohne Essen und Schlaf auszukommen und bei jedem Alarm sofort loszurennen, nehmen diese Verschwendungen als Teil ihrer genuinen Aufgaben wahr.
Letztendlich ist die Anzahl der Notfallpatienten in der Ambulanz oder Höhe des Aktenstapels auf dem Arbeitstisch nicht planbar. Man muss nur fleißig und flexibel bleiben. Und das sind die Mediziner schon immer gewesen…
Und damit haben die Mediziner Recht: Krankenhäuser funktionieren und die meisten Patienten verlassen das Krankenhaus nach einer Behandlung entweder gesund oder in einem gebesserten Zustand.
Es geht aber nicht um die Qualität der Behandlung oder Behandlungsergebnisse, es geht um den Preis für diese Qualität. Und nicht nur den Preis im betriebswirtschaftlichen Sinne.
Viele Überstunden, ausgebrannte Pfleger und Ärzte, Beinahe- und echte Zwischenfälle, Patientenbeschwerden und andere Symptome weisen auf die Prozesse hin, die ihren Output- nur durch einen erhöhten Einsatz aller Beteiligten „produzieren“ können. Anders gesagt, die Krankenhaus-Organisationen befinden sich in einem chronischen Stress.
Im LEAN-Management heißt dieser Zustand Muri – Inflexibilität: Unfähigkeit auf weitere Anforderungen flexibel zu reagieren, da alle Kapazitäten bereits gebunden sind.
Führung
Solange die Probleme am scharfen Prozessende kompensiert werden (können), bleiben alle Führungsetagen überzeugt, dass alles in Ordnung ist. Solange man die immer wieder entstehende „Entgleisungen“ mit natürlichen Ursachen (wie nicht planbare Schwankungen des Patientenaufkommens oder fehlende Routine bei gerade eingestellten Berufsanfängern ohne Einarbeitung) erklären kann.
Wenn das scharfe Prozessende aber keine Kompensationsmöglichkeiten mehr hat, sehen sich die leitenden Mitarbeiter plötzlich mit einem akuten Problem konfrontiert, das sofort und mit allen Mitteln gelöst werden muss. Hier werden Forderungen nach mehr Personal laut…
Das funktioniert aber auch ohne zusätzliche Arbeitskräfte. In vielen Krankenhäusern herrscht nämlich eine Helden-Kultur.
Einer der Herkules-Aufgaben was es z.B. die Rinderställe des Augias auszumisten. Solche Aufgaben übernehmen oft (wenn auch ungerne) erfahrene Mediziner – Überstunden häufen sich an, Pausen zwischen den Diensten werden immer kürzer und Krankenstand der Kernmannschaft steigt. Dafür hat man das Gefühl etwas Besonderes geleistet zu haben und Held zu sein.
Das Einzige was dabei anzumerken ist: Herkules hatte einen Fluss durch die Ställe geleitet und somit vermutlich nicht nur den Unrat beseitigt, sondern alles, was dem Fluss im Wege stand und nicht befestigt war… Seine Arbeit hätte keinen differenzierten QM-Vorgaben genügt. Das Ergebnis hing ausschließlich von den Fähigkeiten des Flusswassers ab Gegenstände wegzuspülen.
Am meisten betroffen ist in dieser Phase die mittlere Führungsebene, die für die Aufrechterhaltung operativer Prozesse verantwortlich ist. Im Vergleich zu Industrie können sie nicht schnell ein paar nicht qualifizierte Kräfte aus einem Poll einstellen oder Produktion wegen mangelnder personellen Kapazitäten drosseln.
Daher florieren die Arbeitszeitfirmen und Vermittlungsagenturen. Wobei sie, medizinisch gesehen, nur eine symptomatische Therapie für chronische Prozessprobleme anbieten.
Unternehmenskultur
Obwohl die Unternehmenskultur erst an der dritten Stelle zu Sprache kommt, beinhaltet sie die beiden anderen Punkte. Prozessgestaltung und Führungsmechanismen sind ein Teil der Unternehmenskultur.
Wenn der LEAN-Dreieck – Prozesse-Führung-Kultur – aktiviert wird, werden die Probleme an allen 3 Eckpunkten gleichzeitig sichtbar.
Im Gabler Wirtschaftslexikon wird die Organisationskultur wie folgt definiert:
„System gemeinsam geteilter Muster des Denkens, Fühlens und Handelns sowie der sie vermittelnden Normen, Werte und Symbole innerhalb einer Organisation.“
Diese Definition kann als eine Variation des bekannten Eisberg-Modells aus Psychologie, Kommunikationswissenschaft und Pädagogik betrachtet werden. Dabei stellen die Normen, Werte und Symbole die Eisbergspitze dar. Unter der Oberfläche können die Denkmuster, Gefühle und Automatismen einer Organisation platziert werden.
Wenn wir aber vom Kulturwandel sprechen, geht es keinesfalls um die Verschmelzung aller Eisbergschichten oder Standardisierung aller Denkmuster. Vielmehr handelt es um die gemeinsame Zielsetzung und Ausrichtung des gesamten Eisbergs auf ein Ziel.
Der Eisberg muss in ein Schiff umgewandelt werden!
Ein Schiff mit vielen Steuermännern am Bord
Das kling komisch und kaum überlebensfähig.
In den Krankenhäusern ist das jedoch Realität.
Nicht abgestimmte Zielvereinbarungen, sich ständig verändernde Rahmenbedingungen, Kostendruck, Personalsituation, hohe Spezialisierung usw. erhöhen die Komplexität des Unternehmens immens. Unter diesen Bedingungen werden die Führungsaufgaben verteilt oder delegiert. Das strategische Management wird vom operativen getrennt. Die entstehende Lücke wird dann durch Controlling, Risikomanagement und andere Tools geschlossen. Aber…
In der Medizin, im Vergleich zu Industrie, ist so eine Institution wie Management nicht etabliert
Diese Aufgaben werden an die im Prozess tätigen leitenden Mitarbeiter verteilt. Und genau das ist der Grund vieler Probleme im Krankenhaus:
Die im Prozess tätigen Mitarbeiter sind objektiv nicht in der Lage am Prozess selber zu arbeiten, da sie „prozessblind“ sind.
Warum werden viele Regeln nicht angehalten oder bewusst ignoriert?
Auch wenn bei Erstellung von Dienst- und Verfahrensanweisungen die bekannten Abläufe bis auf kleinste Details analysiert wurden.
Das Hauptproblem ist dabei die nicht abgestimmten oder nicht berücksichtigten (Sub-)Prozesse und Schnittstellen.
Diese Tatsache führt dazu, dass die Welt der Regelwerke und die gelebte Realität zueinander parallel existieren.
Um ein Kulturwandel in den Gang zu setzen muss die Organisation im ersten Schritt mit dieser Differenz konfrontiert werden. Prozessanalysen, Abstimmung und Vereinheitlichung von Richtlinien muss dabei der LEAN-Logik folgen:
Standards sind dazu da um sie ständig zu verändern
Wenn dieser Paradigmenwechsel gelingt, kann man beginnen schrittweise das Eisberg-Schiff auf das gemeinsame Ziel auszurichten. Und das ohne unendliche Diskussionen mit dem Ziel sich nur dann zu verändern, wenn die beste Lösung zu Papier gebracht wurde.
©Dr. M. Tobman http:// www.lean-kh.de