„Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“

Bernard Shaw

Der Kampf gegen die Schlangenplage

Diese Gesichte hat sich in Indien zugetragen. Eines Tages erfuhr ein englischer Gouverneur über die Schlangenplage. In einer Provinz hatten sich giftige Kobras drastisch vermehrt, was das Leben der Landbevölkerung deutliche erschwerte. Um das Problem zu lösen wurde Kopfgeld für jede getötete Schlange aufgesetzt.

Königskobra (pixabay.com)

Königskobra (pixabay.com)

Der Gedankengang war logisch und einfach: jede lebendige Kobra muss einen Kopf haben. Wird dieser vom restlichen Körper abgetrennt, lebt die Schlange nicht mehr. Draus wurde eine Regel abgeleitet: je mehr abgetrennter Köpfe, desto weniger lebenden Schlangen in der Provinz.

Diese Maßnahme, die mit stetig steigenden Ausgaben verbunden war, führte zu keinem spürbaren Erfolg. Obwohl die gebrachten Schlangenköpfe sich sich im Trophäenlager türmten und das ausgezahlte Geld alle Planungen übertroffen hatte, änderte sich die Schlangenzahl kaum. Bei einer Untersuchung hat sich herausgestellt, dass die indischen Schlangenjäger ziemlich schnell eine gute Methode fanden die gesetzte Kennzahl profitabel zu beeinflussen. Sie haben angefangen Kobras zu züchten und zu schlachten…

Ist diese Geschichte noch aktuell?

Man könnte sagen, dass der militärisch ausgebildeter Gouverneur einfach zu geradlinig dachte und agierte. Oder, dass er die arglistige einheimische Bevölkerung einfach unterschätzt hatte. Oder das er mit seiner Gutmütigkeit dem faulen Volk zum Opfer gefallen ist. Wie auch immer. Er wollte auf jeden Fall helfen, da die giftigen Viecher seine Untertanen bedrohten… Er hatte eben gute Vorsätze, die oft den Weg zu Höhle pflastern.

Die beschriebenen Probleme gehören leider nicht nur der Vergangenheit an. Solche Entscheidungen werden immer noch täglich getroffen. Und nicht nur bei operativen Entscheidungen. In den höchsten politischen Etagen bedienen sich viele ebenfalls dieser Strategie. Es ist zu verlockend alles auf eine nachvollziehbare Kennzahl auszurichten, die alle  komplexen Zusammenhänge in einem Wenn-dann-Satz  zusammenfassen.

7-Tage-Inzidenzkurve Coronavirus in Deutschland

(Quelle: https://www.tagesschau.de/inland/corona-rki-zahlen-125.html)

Dabei ist diese Betrachtungsweise keineswegs falsch. Es muss lediglich präzisiert werden, welche Aussage jede konkrete Kennzahl erlaubt und wo man anfangen muss hinein zu interpretieren bzw. zu prognostizieren.

Es mach außerdem einen großen Unterschied ob der Gouverneur von den „Schlangenköpfen“, „Kobraköpfen“ oder „getöteten Tieren“ spricht.

Was würde ein Prozessmanager dazu sagen?

IST-Zustand war unbefriedigend. Die landwirtschaftlichen Prozesse wurden behindert. Die Bevölkerung (Mitarbeiter) waren verunsichert und die Kosten für medizinische Versorgung schnellten nach oben. Manche Bauern haben sich nicht mehr auf die Felder getraut. Nach ausführlichen Analysen wurde das Problem identifiziert – Schlangen. Deren Anzahl ist nämlich sprunghaft gestiegen, was zu den oben genannten Problemen geführt hat.

SOLL-Zustand war als deutlich reduzierte Anzahl von Kobras definiert…

Oder?

Hätte man sich etwas Mühe gegeben und nach SMART-Regel vorgegangen, könnte das Ziel ungefähr so klingen:

Eine Reduktion der Anzahl von Kobras pro Quadratkilometer auf den Wert von unter 100 bringen. In Anbetracht ausgerechneter Fortpflanzungsgeschwindigkeit dieser Art müssen pro Woche mindestens 100 Köpfe erwachsener Kobras (hier vorgegebene Größe oder z.B. Merkmale) gebracht werden. Die Fangmethoden sowie Abnahme- und Zahlungsbedingungen sollen mit den Vertretern einzelner Stämme abgestimmt werden. Die angestrebte Reduktion der Kobra-Population muss bis zum 31.12. des laufenden Jahres erreicht werden.

Geplante Maßnahmen: Einführung einer Pauschalzahlung für die abgetrennten Schlangenköpfe. Diese Pauschale wird jedem ausgezahlt, der einen Kobra-Kopf zum Schalter am Haupteingang des Gouverneurs-Residenz bringt. Annahme zwischen 16:00 und 18:00 täglich. Der Schalter wird von einem Angestellten betrieben, der direkt dem Schatzmeister unterstellt ist. Wöchentlich ist dem Gouverneur ein Bericht über das ausgezahlte Geld und Schlangenanzahl zu erstatten.

Ungefähr so, auf Hindi übersetzt und schriftlich niedergelegt.

Warum hat es denn nicht geklappt?

Offensichtlich hat der Gouverneur nicht alle Einflussfaktoren berücksichtigt, keine Kontrolle vorgesehen und ein falsches Bild von der Bevölkerung gehabt. Hat er vielleicht mit aktiven, motivierten Bauern gerechnet (Y-Typ nach McGregor), die durch die zusätzliche Belohnung animiert werden ihre Häuser zu verlassen um die Schlangen zu jagen?

Stattdessen entpuppten sich die Untertanen als schwermotivierbare X-Typen, die nur wirtschaftlich denken und versuchen den größten Gewinn (Geld) mit dem kleinsten Aufwand (Schlangen züchten) zu erreichen. Könnte aber auch sein, dass er an die Unterschiede zwischen den indischen und den englischen Bürgern gar nicht dachte.

Hat ihm also nur eine solide Personalabteilung gefehlt?

Die Geschichte berichtet auch nicht darüber wie die gebrachten Nachweise kontrolliert wurden. Ebenso wenig bekannt ist ob es Jagdlizenzen gab (Kontrolle der Qualifikation)? Oder wurde das Geld vielleicht in Form von separaten Budgets pro Dorf etabliert?

Alternativ hätte man ein Punktesystem einführen können: hätte ein Beamte auf einer Karte die Herkunftsorte getöteter Schlangen je mit einem Punkt markiert, wäre ihm schnell  klar, dass die meisten Schlangen in den wenigen Orten überdurchschnittlich oft vorkommen. Nämlich da, wo die meisten „Schlangenfarmen“ etabliert sind.

Management (pixabay.com)

Hätte hier eine Controlling-Abteilung  viel Geld und Ärger sparen können? Oder hat man einen Top-Manager anheuern müssen? Oder wäre das Projektmanagement sinnvoll?

Ob es damals auch Beratungsfirmen schon gab, wurde auch nicht überliefert.

Spannend wäre auch zu erfahren ob der Gouverneur oder seine Beamten das Problem vor Ort beobachtet  oder lediglich aus den Berichten erfahren haben.

Es hat wunderbar funktioniert!

Lassen Sie uns aber die Zielsetzung durch die Kennzahlen-Brille anschauen. Die als Kennzahl gesteckten Ziele wurden erreicht und sogar übertroffen! Der Gouverneur wollte abgeschlagene Köpfe sehen. Davon hat er auch genug bekommen. Das hat aber nicht zur gewünschten Problemlösung geführt.

Es fand nämlich die Verwechslung des Ziels und der Kennzahl statt. Belohnt wurden eben nicht die Schritte zur Zielerreichung (getöteten wilden Schlangen), sondern der Nachweis, dass eine Kobra geschlachtet wurde.

Genau hier liegt das oft unerkannte Problem.

Kennzahlen müssen auf das Endziel ausgerichtet sein und nicht nur die einzelnen Prozessschritte abbilden. Eine Kennzahl sagt eben nur etwas über einen erfassbaren Teil eines Teilprozesses aus.

Es ist viel zu leicht hinter den Kennzahlen (die Bäume) die Realität (den Wald) zu übersehen. Kennzahl ist eben nur eine Kennzahl, die ohne Kontext des Gesamtprozesses nicht interpretierbar ist.

Gegenmaßnahmen, aber schnell

Als der Schwindel mit gezüchteten Kobras aufgeflogen war, wurden die Zahlungen sofort gestoppt. Das hat wohl sogar zur einer Verschlechterung der Situation geführt – die gezüchteten Schlangen wurden dann einfach frei gelassen.

Es ist aber schwer vorzustellen, dass die Landleute die gezüchteten Gifttiere einfach so „laufen“ lassen haben. Sie waren vielleicht schlau und faul, aber keineswegs blöd. Jede freigelassene Schlange bedeutete eine zusätzliche Gefahr. Deswegen kann angenommen werden, dass unmittelbar nach der Entdeckung des Schwindels engmaschige Kontrollen aller Verdachtsfälle angeordnet wurden. Unter diesen Umständen war die Freilassung der Tiere die einzige Rettung von der Strafe oder sogar vom Gefängnis.

Und hier steckt die zweite, nicht weniger wichtige Lehre für das Management: auf keinen Fall darf die Verantwortung für falsche organisatorische Entscheidungen auf die ausführende Arbeitskräfte abgeschoben werden !!!

Durch eine falsche Entscheidung entsteht eine neue IST-Situation, die erneuter Analyse, angepassten Zielsetzung und somit ihrer eigenen Kennzahlen bedarf.

Oder hätte es vielleicht doch gereicht die Kontrollen vor Ort  einzuführen und die Effektivität der Maßnahmen  laufend zu überprüfen?