„Wenn Leute nicht glauben, dass Mathematik einfach ist, dann nur deshalb, weil sie nicht begreifen, wie kompliziert das Leben ist.“
John von Neumann
Die Macht des Schmetterlings
Der Meteorologe Edward Lorenz hat seinen berühmten Beitrag mit der folgenden Frage tituliert: : „Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?“
Die Idee und das Bild waren so prägend, dass diese Frage sofort in eine Behauptung umformuliert und später als Essenz der Chaostheorie wahrgenommen wurde.
Kann also ein leichtes Insekt tatsächlich Einfluss auf globale Veränderungen nehmen? Das wäre voll im Sinne vieler esoterischen Strömungen, die versuchen für alle verständlich (und somit oberflächlich) die komplexen Zusammenhänge zu erklären.
Oder handelt es sich tatsächlich um die Existenz von hoch instabiler Systeme, die eine kleine Veränderung ihrer Elemente nicht verkraften und dadurch im Chaos versinken können?
Klingt ziemlich abstrakt. Hat aber eine große Bedeutung für das Thema LEAN-Krankenhaus.
Strukturiertes Chaos im Krankenhaus
Als ich vor Jahren die neue Assistenzarztstelle in einem Lehrkrankenhaus angetreten bin, habe ich neben einer üblichen Verwirrung in der ersten Wochen ein Gefühl der Schwerelosigkeit übermittelt bekommen. Ich wusste nicht wer für was verantwortlich war, wie die einzelnen Aufgaben zu erledigen waren und wo ich nachsehen bzw. nachfragen kann wenn Probleme nicht lösbar zu sein schienen…
Die einzige Lernmethode in dieser Schwerelosigkeit war etwas zu machen und zu beobachten gegen welche Wand mich die unglückliche Bewegung werfen wird. So konnte ich meine Grenzen im Unternehmen erkennen. Ich war fachlich kein Anfänger, die organisatorischen Probleme machten mir aber zu schaffen. Und genau hier hat mich eine meiner neuen Kolleginnen mit einem Satz getröstet: „Du wirst bald verstehen wie unser Chaos funktioniert.“ Uns dies war tatsächlich so geschehen.
Wie kann es sein, dass Chaos erlernbar ist? Wie kann man in einem Chaos-Haus gute Leistungen erbringen und dazu noch effektiv wirtschaften?
Um genau diese Fragen zu beantworten muss man sich mit der Chaostheorie näher befassen.
Entdeckung des Schmetterlingseffekts
Herr Lorenz wollte eigentlich die Konvektion in der Atmosphäre mit Hilfe einer Computers untersuchen. Dafür wurde ein mathematisches Modell entwickelt und als Programm umgesetzt. Damals dauerte es etwas länger bis man die erforderlichen Zahlen aus dem Rechner bekam. Nach einer Kaffeepause hatte Herr Lorenz die Zahlen analysiert und so überrascht gewesen, dass er die Messungen für einen Fehler hielt. Sie schienen keinen Sinn zu machen, da die kleinste Veränderung der Eingangswerten (z.B. Aufrundung um die Anzahl der Nachkommastellen zu reduzieren) brachte absolut unvorhersehbaren Resultate. Erst nach mehrfacher Wiederholung wurde ein formaler Fehler in der Berechnung ausgeschlossen.
Was verblüffend dabei war – man konnte einen Bereich beschreiben, in dem sich alle Werte befinden werden, aber den genaueren Ort für den aktuellen Wert in diesem Bereich festzustellen war nicht möglich. Nach der Berechnung und grafischer Darstellung mehrerer Datenreihen entstand eine Schmetterling-ähnliche Struktur (s.g. seltsame Attraktor)
Abb. 1 Lorenz-Attraktor
Chaos hat eine Struktur und ist berechenbar
Und nun kommen wir zum echten Schmetterlingseffekt: werden die gleichen Werte in das System eingegeben, kommen die gleichen Ergebnisse zustande. Die chaotischen Verhältnisse betreffen nur die unterschiedlichen Eingaben. Und genau das hat Herr Lorenz unter dem „Flügelschlag eines Schmetterlings“ verstanden – unvorhersehbare Antworten auf die leicht veränderte Inputs.
Mit dieser Erkenntnis können wir uns zurück an das „scharfe“ Prozessende begeben um zu schauen was diese schöne, aber absolut abstrakte Betrachtungsweise mit der Patientenbehandlung zu tun hat.
LEAN-Krankenhaus: Prozesse verbessern
Das Wort „Prozessmanagement“ ist inzwischen zu einem Zauberwort geworden. Wir reden nicht mehr über mangelhafte Abläufe oder fehlende Strukturen. Wir betrachten unser TUN im Krankenhaus als Prozess. Bzw. als eine Prozesslandschaft aus vielen Prozessen mit Schnittstellen, Schleifen usw. Dabei fühlen sich alle, die am Prozess beteiligt sind, sich für die Prozessverbesserung verantwortlich. Und dies oft ohne sich klar zwei Fragen beantwortet zu haben:
- von fängt der betroffene Prozess an und wo hört er auf?
- wer ist der eigentliche Prozesseigner?
Um diese Antworten zu finden bzw. die fehlende Antworten zu kompensieren, werden zahlreiche Arbeitsgruppen gebildet, gemeinsame Sitzungen einberufen, oder… die „graue Zonen“ werden einfach ausgeblendet und durch spontane Lösungen überbrückt.
Und genau hier fängt das Chaos im Krankenhaus an: die Antwort unseres Systems hängt davon ab ob der Betroffene genau weiß wen, wie und wann er fragen kann.
Und ob die Frage in einer schriftlichen oder mündlichen Form erfolgen soll.
Oder ob die Erwartung von dem Vorgesetzten ist, dass der Mitarbeiter das Problem selbständig lösen muss.
Da es keine klaren Strukturen gibt und man sich oft auf (oft fehlendes) Fingerspitzengefühl verlassen muss, löst manchmal ein organisatorische Ungereimtheit („Flügelschlag eines Schmetterlings“) eine heftige Reaktion aus („ein Tornado“), die auch eine Kündigung (z.B. eines jungen Assistenzarztes oder einer Pflegekraft) zu Folge haben kann.
Damit begeben wir uns in den Bereich der hausinternen Standards und standardisierten Prozesse.
LEAN-Standard für Prozessoptimierung
Ist eine Prozessoptimierung standardiserbar? Sind alle Prozesse standardisierbar? Was bedeutet das Wort „standardisieren“?
Durch die zu abstrakte, nicht an die Medizin angepasste QM-Normen, wurde der Begriff „Standard“ für die Mediziner negativ belegt. „Wir bauen doch keine Autos!“,- das ist einer der Standardantworten auf ein Vorschlag irgendeinen klinischen Prozess zu standardisieren.
Dabei haben Standards längst in allen medizinischen Bereichen Einzug gehalten (z.B. Behandlungsstandards, Leitlinien, Best-Practice, Empfehlungen von Fachgesellschaften). Diese Tools werden jedoch oft nur als juristisch-, abrechnungs- oder QM-relevant angesehen.
Wenn ein SOP entwickelt wird, wird oft unter diesem Begriff eine Wunschliste institutionalisiert wie der eine oder der andere Prozess zu laufen hat – ohne auf die Umsetzungs- oder Kontrollmechanismen einzugehen. Geschweige denn auf die Schnittstellen und Interessenkonflikte.
Nach DUDEN bedeutet jedoch das Wort Standard „etwas, was als mustergültig, modellhaft angesehen wird und wonach sich anderes richtet; Richtschnur, Maßstab, Norm“.
Und in dieser Definition gibt es keine Angabe zu Endgültigkeit und Unveränderlichkeit dieser Maßstäbe.
Laut LEAN sind die Standards eben da um sie ständig weiterzuentwickeln.
Bei Erstellung eines Standards muss aber die richtige Ebene gewählt werden, die weder tief in die diverse operative Prozesse eingreift, noch zu strategisch und somit zu abstrakt bleibt.
Dabei soll eine Prozessoptimierung in 3 Schritten umgesetzt werden:
- Stabilisieren
- Standardisieren
- Optimieren
Diese Schritte kann man als Standard für Prozessoptimierung betrachten.
Prozesstabilisierung: vom Chaos zum Schmetterling
Der erste Schritt der Prozessoptimierung ist die Bekämpfung von grauen Zonen, Eliminierung von Redundanzen, Straffung aufgeblähter, überdimensionierter Prozesse, Vereinfachung verschachtelter Abläufe, die über Jahre hinweg zu einer zwiebelartigen Struktur zusammengewachsen sind.
Am Ende dieser Phase wird das System zwar nicht ganz transparent werden. Die Insider werden jedoch in die Lage versetzt durch gezielte und präzise Inputs, stabile Antworten zu bekommen. Sie verstehen wörtlich wie das Chaos im Krankenhaus funktioniert!
So wird der Schmetterling geboren: ich kenne jemanden, der jemanden kennt, der weiß wie das Problem zu lösen ist. Die Helden-Struktur eine Organisation kristallisiert sich heraus. In der Chaos-Theorie werden solche „Schlüsselmitarbeiter“ als „Inseln der Stabilität im Meer des Chaos“ beschrieben.
Im zweiten Schritt müssen die wichtigsten Prozesse standardisiert werden. Erst bei bei dieser formellen Beschreibung eigener Abläufe wird einem bewusst wie gut er seine echten Prozessen wirklich kennt.
Abb. 2 Strukturen im Black-Box einer Organisation
Die standardisierten Abläufe werden zum Grundgerüst für Veränderungen, da die vor- und nachgeschalteten Prozesse schrittweise in die Veränderung miteinbezogen werden. So beginnt eine globale Transformation des Unternehmens und dessen Kultur.
Mit einer Ausnahme: oft werden die Bestrebungen eine Struktur einzubringen im Keim erstickt. Dafür gibt es genug Gründe. Und die wichtigsten dabei sind:
- eine unvermeidliche Machtumverteilung
- entstehende Transparenz in den sorgsam behütete Problemzonen jeder Organisationseinheit
Und erst am Ende kommt das, was meistens ganz am Anfang angestrebt wurde – die echte Prozessoptimierung.
Effektiv verändern kann man nur dass, was man kennt. Ansonsten handelt es sich um keine Veränderung oder Optimierung, sondern um ein Forschungsprojekt mit einem unbekannten Ausgang.
©Dr. M. Tobman http:// www.lean-kh.de